Dienstag, 10. Mai 2005

Sehnsucht

Lang hatte sie davon geträumt, es mit jeder Faser ihres Körpers herbeigewünscht: dass sie Patrick - ihr Wohnungsnachbar - endlich beachten möge, dass sein Herz auch nur für kurze Zeit schneller schlagen würde, wenn er ihr begegnete.

Eines Morgens hatte sie ihre Wohnung verlassen, - ihre Gedanken urlaubten wie so oft in einer Parallelwelt -, da waren sie am Gang zusammengestoßen, beide waren hingefallen, sie auf ihm zu liegen gekommen. Zuerst hatte sie nicht gewusst, wie ihr geschah, dann hatte sie ihn erkannt, war sich der Situation bewusst geworden und noch mehr erschrocken.

Der Duft seines Körpers, seine wehrlose Nähe hatten sie maßlos verwirrt, sodass sie sich einfach ihren intensiven Wahrnehmungen und Gefühlen hingegeben hatte. Sie hatte schließlich noch mitbekommen, dass er ihr beim Aufstehen geholfen und fortgegangen war. Aber ob er sie in diesen wenigen Momenten wahrgenommen, sie vielleicht angelächelt hatte, ob er gar Interesse an ihr erkennen lassen hatte, hatte sie später nicht mehr zu sagen gewusst.

In den kommenden Wochen erfüllte sie die gewaltige Kraft der Sehnsucht. Es war ein verzehrendes Gefühl, sie spürte, dass es in ihr lebte, brannte und schmerzte. Die Sehnsucht ließ sich kaum verbergen, leuchtete aus ihren Augen, verlieh ihren Bewegungen Schwung und ihren Gedanken Tiefe, ließ sie nicht schlafen, nicht fern sehen und nicht lesen, aber wenigstens wusste sie, dass das, was sie wach hielt, wertvoll war, ein Geschenk von noch nie gekannter Größe.

Ihre Pläne wirbelten durcheinander, sie buchte die lang ersehnte Urlaubsreise nicht und vernachlässigte ihre Bekannten. Ihre beste Freundin verstand sie, die meisten andern aber vergaßen sie. Überhaupt war sie in dieser Zeit für ihre Mitmenschen schwer zu ertragen. Sie fühlte sich oft unverstanden und wurde ebenso behandelt. Manchmal fokussierte ihre Aufmerksamkeit im Nirgendwo, dann wieder trug sie ihr Herz auf der Zunge, ihre Haut wurde dünner, und sie fiel - scheinbar grundlos - wildfremden Menschen weinend um den Hals.

Aber sie lebte in bisher nicht gekannter Intensität, atmete tiefer, ihre weichen Gesichtszüge strahlten Kraft und kindliche Freude aus. Sie zählte die Stunden, redete mit dem Mond und führte ihre Seele spazieren. Und irgendwann merkte sie schließlich, dass sich das ursprüngliche Ziel ihrer Sehnsucht mehr und mehr aus ihrem Herzen entfernte. Zurück blieb wohlschwingende Gelassenheit, in der sie langsam einen Weg zu ihrem Selbst fand.

Sie beschloss, umzuziehen.

Als ihr Patrick dabei half, die Möbel aus der Wohnung zu tragen, war er einfach ein guter Nachbar, und nicht mehr, und nur ein flüchtiges Aufblitzen in ihren Augen verriet, dass er eine kurze, intensive Zeit lang ihr Herz berührt hatte.

Zu schön

Ein klares Konzept. Es fährt durch die Landschaft, ohne sich umzusehen und organisiert die Dinge rund um sich. Alles muss perfekt sein, alles muss harmonieren. Die Sonne muss scheinen, die Berge vor Glück schreien, und die Kühe haben als geduldige Dekorationselemente in der Landschaft herumzustehen.

Alle Wege führen zum Hotel, jede Mistgabel weist dorthin. Und – angekommen – beantwortet die Frage nach dem Sinn des Ganzen der überdeutliche Hinweis auf ein Kreditkartenunternehmen. Verdammte verlogene heile Welt, die dich nicht loslassen will!

Du checkst ein, durchquerst die fein-bäuerlich zu Tode stilisierte Stube, steigst über marmorne Steinstufen, stehst voll Entsetzen in deinem Zimmer, das wiederum aussieht wie ein Abklatsch der Stube, nur viel billiger. Wie sollst du hier atmen? Du starrst durch das verzogene Holzfenster des seltsam dunklen Raumes in die schreiend helle Landschaft und wirst depressiv. Nur ein Anflug, aber der reicht. Die halb ausgepackten Koffer ins Eck geschmissen und hinaus!

Der Hofhund wundert sich. Du ignorierst ihn. Kein Mensch unterwegs, den du ignorieren könntest. Du schließt die Augen und atmest Kuhdung. So weit alles in Ordnung. Du darfst nur die Augen nicht mehr öffnen. Du tust es trotzdem. Es hat sich nichts verändert!

Blumenwiese vor, hinter und neben dir. Unaufdringliche Ästhetik, die neuen Hass in dir weckt. Wie gut, dass du bemerkst: Die Blumen in der Wiese sind zu vielt und in ihrer Schönheit doch allein. Du schmeißt dich bäuchlings in die Wiese. In der Wiese versteckt liegen Steine. Wenigstens der Schmerz ist noch echt. Du stehst auf, putzt dich ab, gehst weiter. Den Weg haben sie auf extra dreckig hergerichtet, denkst du. Gehört zum All-inclusive-Landurlaub dazu. Die Gäste sollen einmal das Gefühl so richtig kotiger, schwerer Schuhe an ihren Füßen bekommen.

Du holst die Kamera heraus, wählst einen gefälligen Bildausschnitt und drückst mechanisch ab, mehrmals, bis zum Überdruss. Wie wenn du im Restaurant zum Kellner sagst: „Können Sie’s einpacken?“, wenn du das Schöne am Tisch über hast. Zu Hause wird dann das Essen in der Folie ver-derben, die Bilder werden vernichtet werden. Das Schicksal allen Mittelmaßes, zu dem auch das gewesene Höchstmaß wird. Du stellst fest: Nichts, wirklich nichts, kann dem Vergleich mit dem augenblicklichen Erleben dieser Landschaft standhalten. Und deine Laune hat sich diesem Wettbewerb offenbar erst gar nicht gestellt.

Letzte Wegbiegung, letzte Sonnenstrahlen. Auch das noch – ein Rundweg. Das Ziel ist der Anfang und alles umsonst. Da kommt dir eine junge Frau im Dirndl entgegen. Eine Schönheit in ihrer sommersprossigen Nicht-Perfektion. Unprätentiös, authentisch und stimmig. Ihr Lächeln lässt es warm rieseln in dir. Doch zu schön. Du schaust näher hin. Ordinär tiefer Ausschnitt, mit dem zu offensichtlichen Ziel geschneidert, deine Blicke zu fangen. Du schauderst.

Wenn es finster wird und du die entsetzliche Schönheit rund um dich nicht mehr wahrnehmen kannst, wird sie dich womöglich noch im Traum heimsuchen. Und du wirst weinen, wenn du an morgen denkst.

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